Aus dem Kurs „Literarisches Schreiben“ im April 2024 hat sich eine kontinuierliche Gruppe unter dem Arbeitstitel „Schönschreibgruppe“ entwickelt. Einige der entstandenen Texte und Projekte in progress stellen wir hier vor. Zur Freude und zur Inspiration.
Christina Mondolfo schnitzt Haikus und Textskulpturen.
DEPRESSION
Nebel bedeckt mich,
Leichentuch aus Spinnweben.
„Schlaf endlich, mein Kind.“
Ich wate durch Molasse. Dick, dunkel, zähflüssig, klebrig. Ich habe meine Schuhe längst verloren in dieser süßlichen Masse aus Verführung und Verwesung. Meinen Halt auch. Ich wanke. Die Molasse kriecht langsam an meinen Beinen hinauf. Unaufhaltsam umschlingt sie meine Knie, meine Oberschenkel, giert nach meinem Bauch, will mein Herz. Sie fließt höher, legt sich um meinen Hals, raubt mir Luft und Stimme. Sie verschließt meinen Mund, bedeckt meine Augen und verstopft meine Ohren. Dunkelheit, Stille, Starre. Ich werde zu Molasse, fließe als sinnenentleertes Wesen. Ich habe meine Gedanken verloren, habe mich verloren.
Ich wache auf; nicht schweißgebadet, aber irgendwie klebrig. Durch das Fenster dringt schwacher Lichtschein. Nein, nicht die aufgehende Sonne, es ist noch zu früh. Eine Straßenlaterne. Die Nacht hinter dem gedämpften Licht sieht aus wie Molasse. Dick, dunkel, zähflüssig, klebrig. Sie will zu mir ins Zimmer, in mein Bett, in mich. Ich lasse sie.
------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Judith Mederer zoomt zurück in ihre Kindheit. Wir sind zack mittendrin.
Zwei Worte
Moosbach-Fragment (Erinnerungen ans Kindsein)
Ich sause hinter Astrid durch die Kuchl, ich sehe nur mehr ihren Holzpantoffel um die Ecke verschwinden. Jetzt durch die warme Stubn, vorbei am schwarzen Holzofenungetüm. Am Türstock halte ich[JM1] mich fest. Ich weiß, das spart Sekunden und ich komme schneller um die Kurve. Weiter ins Vorhaus, über die Holzdielen, krächz, krächz, über die Fliesen, kalt, da und dort ist ein Stück herausgebrochen, Tempo ein bisschen, nur ein ganz kleines bisschen, reduzieren, auf den Fliesen ist mit Socken Rutschgefahr. Den Gang entlang vorbei am Waschkessel. Hier kann ich raufschaun, ohne Tempo zu verlieren. Dort wo auf zwei Stangen das „Lebensmittelreservoir“ ist. Dort oben, wo Kinderhände nicht hinkommen und auch nichts zu suchen haben. Da liegen sie. Auf zwei dunklen Leisten aus Holz. Zwei Laibe Brot. Rund, appetitlich, groß, dunkelbraun als hätte jemand einen Medizinball in zwei Hälften geschnitten, mit diesen symmetrischen Ringen und dem Geruch von Moosbach. Zu der Zeit dachte ich noch, dass der Laib mit „e“ geschrieben wird, weil in diesem Roggenberg muss doch ein ganzer Leib drinstecken. Wir wussten, das Brot wird später von Tante Greti geholt und von ihr zur Jausn angeschnitten. Jetzt aber weiter – vorher muss ich noch Astrid erwischen. Jetzt sehe ich außer ihrem Holzpantoffel auch schon ihre blaue Hose entwischen. Die Tür zieht den letzten Zipfel des schwarzen Haar-Zopfs rein. Gleich erwisch ich sie! Wir sind in der Küche, dort wo in meiner Erinnerung alle meine Verwandten Platz hatten, weil Platz ist in der kleinsten Hütte, wie Oma immer gesagt hat. Eine Runde ist geschafft. In der zweiten Runde schnapp ich sie! Noch liegt mein „Gleich hab ich dich“- Gebrüll in der Luft, da hör ich sie, die Worte die sich in mein Gedächtnis für immer einprägen werden. Dein Rücken schaut uns wie all die anderen Male aufrecht, regungslos an. Dein Blick bleibt konzentriert auf die Tarockkarten in deiner Hand gerichtet, die Stimme umso einprägsamer, deine Worte laut, raum- also Küchefüllend, gerichtet an uns, deine Enkelkinder. Sie sind nur zu zweit und brauchen weder Erklärung noch Antwort: „Tür zua!“
------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Gerlinde Petric-Wallner sortiert Empfindungen schreibend. So kann sie sie besser aushalten.
Asim geht
„Er weiß, dass du kommst“, hat mir Silva geschrieben. „Er freut sich.“
Ihr Vater liegt im AKH Wien. Grüner Bettenturm, Abteilung 21B, Zimmer 6. Die Tür ist geschlossen. Ich traue mich nicht rein. Warte.
Ich lege meinen Rucksack ab und hole den A4-großen Wald raus, der darin steckt. Einige Jahre ist es her, als mein Mann und ich nach Sarajevo gereist waren. Vertraut wirkt die Stadt damals auf mich, obwohl ich zum ersten Mal dort bin. Vielleicht auch deshalb, weil mitten in der Innenstadt die rote Einser-Straßenbahn aus Wien fährt. Und ein gelbes, österreichisches Postbusmodell, das hierzulande längst ausrangiert ist. Es sind Geschenke Österreichs an Sarajevo, als die Stadt nach dem Ende des Bosnienkrieges am Boden liegt. Vertraut ist mir Sarajevo auch, weil es da eben Asim gibt. Fatima, seine Frau. Dino, Silvas Bruder. Zu einer Zeit, als ich als Studentin erstmals nach Wien gekommen bin, in eine mir fremde Welt, wurde Silva eine meiner ersten Vertrauten. Wir teilten uns eine Wohnung, manchmal auch das Essen und unsere Träume. Ihre Familie in Sarajevo, die immer wieder zu Besuch kam, wurde nach und nach auch zu meiner Familie.
So kam es, dass mein Mann und ich Jahre später auf unserer Bosnien-Reise in einer kleinen Wohnung am Stadtrand Sarajevos sitzen und Ofenpaprika mit Rahmsauce auf Bosnisch essen. Asim und Fatima haben uns zu sich eingeladen. Asim will uns seine Stadt zeigen und seinen Lieblingsort, der aussieht wie ein Wald. Es ist jener Ort, an dem die Bosna aus der Erde in die Welt geboren wird. Ich stehe da, schaue, knipse. Ein kleiner Bach springt aus der Erde, schlängelt sich durch Wiesen, auf denen riesige Laubbäume stehen. Alles ist Grün. Sattes, saftiges Hellgrün. Heute halte ich die A4-vergrößerte Version des Waldes in meiner Hand. Und denke mir: „Passt doch perfekt zum grünen Bettenhaus“. Ich gehe rein.
Und sehe Asim sofort. Drei Menschen liegen im Zimmer. Er ist der Erste. Ich sehe seine Haut, die sich so dünn um die Knochen legt, dass es beim Anblick weh tut. Ich sehe seine Haare, die sich zählen ließen. Ich sehe den riesigen Verband, der seinen unteren Rücken schützt, als er sich auf die andere Seite, zu mir, dreht und die Bettdecke kurz wegrutscht. Eine offene Wunde, wird er mir später erzählen. Was ich nicht sehe, ist der Tumor in seinem Darm, der sich nicht mehr operieren lässt. Was ich nicht weiß: Weiß Asim, wie es um ihn steht? Dass er einer der nächsten ist, der von dieser Welt geht?
Ich rolle das Nachtkästchen zur Seite, hole mir einen Sessel und setze mich neben Asims Bett. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sage ich und gebe ihm den Wald. Asim hält das Foto dicht an sein Gesicht. „Der Bosna-Ursprung“, sage ich. „Erinnerst du dich? Den hast du uns gezeigt.“ „Ich weiß“, sagt Asim. Ich klebe das Blatt an die Wand gegenüber von seinem Bett. „Siehst du es so gut?“ Dann hole ich mein Mikrofon heraus. „Asim, ich möchte dich einiges fragen. Und mit aufnehmen, wenn das für dich passt.“ Eine Stunde werde ich bei ihm bleiben. Ihn fragen, wo er aufgewachsen ist. Er wird mir vom Garten in der Herzegowina erzählen, dort, wo die Sonne gerne scheint und das Obst so schmeckt, wie es schmecken soll. Granatäpfel, Feigen, Zwetschgen. Hunger leiden musste Asim als Kind nie. Obwohl die Familie kein Geld hatte, sich allein mit dem versorgte, was der Garten alles hergab. Asim erzählt von seinen Sommern. Die ganze Familie hat draußen geschlafen, weil das Haus zu klein war. Frei. So hat er seine Kindheit in Erinnerung.
Eng wird es später in seiner Arbeit werden. Eine Art James Bond ist Asim, arbeitet im Geheimdienst. „War deine Arbeit gefährlich?“, frage ich ihn. „Ja.“ sagt er. Und erzählt mir, dass er nichts davon erzählen darf. Dass er heute Krebs hat, führt er auch auf diese Arbeit zurück. Lebensgefahr, ohne jemandem darüber erzählen zu dürfen. Ängste. Reisen, von denen er selbst seinen Liebsten gegenüber lügen muss. „Nimm die Arbeit nicht zu ernst“, sagt mir Asim.
Als ich gehe, sagt er: „Silva ist so pessimistisch. Wenn es mir wieder besser geht, werde ich nach Bosnien zurückreisen, in meinen Garten.“ Weiß Asim nicht, dass er sterben wird? Verdrängt er sein Sterben? Oder ist er mir gegenüber nur höflich? Will mir keine unangenehmen Gefühle machen? Will mich schützen? Lieber „alles wird gut“ sagen?
Sollte das nicht meine Rolle sein?
Stattdessen Stille.
Kein: „Ja, das ist eine gute Idee.“ Kein: „Hoffnung ist wichtig“. Kein: „Das wird schon wieder.“
Wenn es ums Sterben geht, helfen Stehsätze nicht. Ich denke daran, wie es mir ginge, an seiner Stelle. Wäre es mir peinlich, sterben zu müssen. Die nächste zu sein. „Entschuldige bitte“, würde ich zu Asim sagen, wenn er an meinem Bett säße. Vor Scham würde ich nicht mal mehr Rot anlaufen können, weil mein Gesicht schon so farblos geworden ist. „Entschuldige bitte, Asim“, würde ich sagen“, dass ich dir mit meinem Tod so nahe komme. Dass ich so gefühlsmäßige Umstände mache.“
Kann der Tod für einen selbst zum Schämen sein?
Ich trage den Sessel wieder zurück zum Tisch, rolle das Nachtkästchen so nah wie möglich an Asims Bett heran: „Brauchst du noch was? Soll ich dir was geben?“, frage ich und zeige auf Wasserflasche, Joghurt, Teeglas. „Nein, danke“, sagt Asim. Ich ziehe meine Jacke an, hole die Tasche vom Haken. Langsamer, als sonst. Wie verabschiedet man sich von jemandem, den man vielleicht nicht mehr wiedersehen wird? Ich gehe nochmal auf Asim zu, nah. Streichle seine Hand. Er zuckt zurück. Sieht mich irritiert an. Auch ich bin irritiert. War das zu nah? So vertraut sind wir auch wieder nicht. Wie verhält man sich Sterbenden gegenüber? Ich kenne keine Regeln dazu. Aber selbst wenn es welche gäbe: Ich würde mich an keine halten wollen.
Dann stehe ich wieder draußen, direkt vorm Haupteingang des Allgemeinen Krankenhauses. Spüre, wie der Wind auf meine Haut trifft. Sehe wie die Sonne den Asphalt bemalt. Sehe den Menschen zu, die gehen. Reden. Telefonieren. Einander umarmen. Sehe den Baum, die Wiese, die lustig bunt bemalten Böller. Fühle die Wärme in meinen Händen. Fühle mein Herz. Fühle das Leben. Fühle. Lebe. Und gehe nachhause.
------------------------------------------------------------------------------------------------------------
D.A. hat seinen Vater früh verloren. Als die Söhne nach dem Opa fragen, den sie nicht mehr kennenlernen konnten, sucht er Puzzlestücke aus der Erinnerung zusammen.
Comics für den dunklen Mann
Mein Vater hatte keinen guten Freund; einen, der ihn durchs ganze Leben begleitet, den hatte er nicht. Bekannte ja. Einer, der dunkle Mann zum Beispiel, ist so einer, ein Bekannter. Er kommt zu uns zu Besuch in die Schlachthausgasse. Ich kenne seinen Namen nicht. Er ist groß, hager. Er hat schwarz-stechende Augen in dunklen Höhlen, dazu schwarzen Vollbart und schwarze Locken – vielleicht ist er Ende dreißig. So stellte ich mir als Kind einen Süditaliener vor; dunkler Typ, dunkle Erscheinung, schmal-ovales Gesicht, unter den Brauen den Blick mehr nach innen gerichtet. Er sieht gut aus, beeindruckt und erschreckt mich zugleich. Mir scheint, als hätte er nie gesprochen - was nicht stimmt, aber ich empfinde eine verzweifelte Stille um ihn. Er wirkt wie ein in Unehren entlassener Robin Hood - ohne Kameraden, ohne Schutz. Sherwood Forest ist verloren. An der Küste wäre er ein Pirat, im Gebirge ein Wilderer, im gelobten Land ein Christus ohne Jünger und ohne Maria Magdalena. Für einen kurzen Moment wendet er sich mir intensiv zu: „Kann ich mir deine Comics ausborgen?“ Mir wird heiß. Das ist weniger einer Frage, mehr eine Entscheidung. Ein erwachsener Mann liest Comics. Meine Comics! „Ich bring sie dir bald zurück“, erklärte er. Der Vater schweigt betreten, die Mutter blicket stumm.
Ein paar Wochen später will mein Vater ihn besuchen. „Komm mit“. Warum nimmt er mich mit? Wahrscheinlich ist ihm die Sache nicht geheuer. „Weißt, du“, sagt er entschuldigend zu mir, „er wohnt jetzt da unten.“ „Jetzt“, bedeutete, dass er vorher in Erdberg gelebt hatte und „da unten“ heißt: in diesem Gstättengelände hinter dem Erdberger Kellerberg jenseits der Schlachthausgasse. Die Gasometer sind nicht weit. Wir nähern uns einer Art Schrebergartenhäuschen, wahrscheinlich aus den zwanziger Jahren. Schon bei der Errichtung klein und schief gebaut - ohne das geringste Futzelchen Romantik. Fünfzig Jahre später ist es immer noch niedrig, hässlich und feucht. Ein Hollunder-Strauch stützt die mürbe Hauswand. Ein verwilderter Zwetschkenbaum überragt das undichte Dach - davor ein Gartenweg, Gräser in den Spalten zersprungener Platten. Hier im verwilderten Niemandsland zwischen Simmering und Erdberg wohnt die Armut. Vor dem Krieg teilen sich ein paar Gärtnereien, schiefe Schuppen und halbwilde Gärten den Platz an der Peripherie. Nach dem Krieg stranden hier deutschsprachige Vertriebene. Diese Flüchtlinge kommen aus Bruck an der Donau (heute Most pri Bratislave) in der Slowakei und leben in Holzbaracken in der Barthgasse. Displaced Persons auf dem Weg ins bessere Leben.
Auch der dunkle Mann ist so eine Displaced Person, aber anders. Er liegt am Boden, eingewickelt in eine fleckig-graue Steppdecke. Die Fenster im Nebenraum sind teilweise zerborsten und Scherben und zerrissene Comics liegen herum. Meine sind nicht dabei. Mr. Namenlos rührt sich nicht - nicht tot aber mit der Aura des Unansprechbaren. Noli me tangere – berühr mich nicht, halt mich nicht fest, hat der auferstandene Jesus zu Maria Magdalena gesagt. Wahrscheinlich ist mein Pirat betrunken, zumindest liegen ein paar leere Bierflaschen herum. Gösser, Stiegl und Ottakringer. Vielleicht, aber die Idee kommt mir erst viel, viel später, vielleicht nimmt er Drogen. Denn wie ein Säufer sieht er nicht aus, dafür wirkt er zu edel. Mein Vater spricht ihn an, berührt ihn aber nicht; er reagiert nicht, die Brust hebt und senkt sich leicht. Es ist beklemmend – wir gehen.
Zu Hause diskutierten meine Eltern mit verhaltener Schärfe. Vorwurfsvoll der Ton meiner Mutter („Wie kannst du …!?“); wahrscheinlich macht sie meinem Vater Vorhaltungen, sich mit solchen Leuten abzugeben, überhaupt solche Kontakte zu haben. Unleidlich-verhalten mein Vater. Die Stimme angeschmirgelt, die Falte über der Nase steil. Er verteidigt sich. Ein paar scharfe Satzfetzen. Mein Vater unwillig über den Ton meiner Mutter.
Wahrscheinlich, aber das ist ein Gemenge aus unscharfen Erinnerungen und freisteigender Phantasie, war die Geschichte recht schlicht: Der Mann hatte ein normales Leben, Beruf, Wohnung, sicher eine Frau – dann Scheidung, Depression, Lose (arbeitslos, obdachlos), dazu Alkohol und dann weg aus dem Städtischen hinüber in den Erdberger Mais unter Hollerbusch und Zwetschkenbaum wie eine Figur aus einem Theodor-Kramer-Gedicht. Er hat dabei die magische Grenze der Schlachthausgasse überschritten – um dann für immer unser Leben zu verlassen. Freunde bleiben, Bekannte verschwinden. Meine Comics habe ich nie zurückbekommen.
[JM1]