Texte der "Literarischen Schreibgruppe 2024"


Aus dem Kurs „Literarisches Schreiben“ im April 2024 hat sich eine kontinuierliche Gruppe unter dem Arbeitstitel „Schönschreibgruppe“ entwickelt. Einige der entstandenen Texte und Projekte stellen wir hier vor: Erstaunliches, Verspieltes, Existenzielles, das wir gern teilen.

Kommentare der Autorin/des Autors nebst Feedback einer Kollegin/eines Kollegen findet ihr kursiv darunter, darüber, wo`s halt besser passt.

Der Hotelwechsel

von Gerlinde Petrić -Wallner

„Ebene 21 B“. Es sind vertraute Worte, die der Lift im grünen Bettenturm des AKH Wien zu mir spricht, ehe er mich ganz hinaufbringt, hinauf in den obersten Stock. Ich steige aus dem Lift, gehe durch den langen Gang, hinein in die Abteilung 21B, vorbei an den Zimmern, in denen die Kranken liegen, vorbei an der Küche mit dem großen Teekessel, den ich schon kenne, vorbei am Zimmer der Pfleger und Pflegerinnen, vor dem ich letztens so lang warten musste, bis endlich jemand mit Schmerzmittelnachschub gekommen war, weiter in Richtung Zimmer Nummer 9. Dort liegt Amir. Er hat ein neues Zuhause. Einen Spalt steht die Tür offen. Ich trete ein.

Das Zimmer ist groß. Zwei Betten hätten noch Platz darin. Aber Amir ist allein. Er liegt am Ende des Zimmers, gleich neben der langen Fensterfront, die von einem Zimmereck zum nächsten reicht. Seine Augen sind geschlossen, sein Mund steht offen.

Ich gehe zu seinem Bett. Gehe weiter bis zum kleinen Tisch mit dem Sessel davor, auf dem Amir nicht mehr sitzen kann, weil er seit Wochen nur noch liegt. Ich ziehe meine Jacke aus. So, dass ich möglichst nicht verrate, hier zu sein. Hänge sie über die Lehne, lege meine kleine Tasche auf den Sitz und drehe mich zum Fenster.

Hinter mir liegt Amir, davor liegt uns ganz Wien zu Füßen. Votivkirche. Stephansdom. Das Rathaus. Darüber die rosa Wolkendecke, als wollte der Himmel schlafen gehen. Bereit fürs Bett.

Ich drehe mich um zu Amir. Soll ich bleiben? Lieber gehen? Ihn wecken? Ich entscheide mich fürs Handyschauen. Hole meine Tasche und krame. Da wacht Amir auf.

„Hallo, Amir. Eine schöne Aussicht hast du da“, sage ich. Und bleibe stehen. Das Handy in der Hand. „Ich bin's. Ich bin wieder da.“ Amir antwortet nicht. Stattdessen antwortet sein Herz. Die Antwort kommt aus dem Gerät direkt neben Amirs Bett. Es piepst. Laut. Minutenlang. Ehe Amir selbst etwas zu mir sagt: „Du hast mich überrascht.“

Du mich auch, möchte ich antworten.

Leona, seine Tochter, hat mir zuvor von der vergangenen Nacht erzählt. Davon, dass ein Arzt vom AKH sie abends angerufen hat. Sie solle kommen, sofort. Davon, dass sie, als sie hier war, die Panik in den Augen ihres Vaters gesehen hat. Das röchelnde Atmen. Zu wenig Luft. Ein. Ein. Aus. Ein. Ein. Ein. Dazu das Piepsen der Geräte, die auf Überleben ausgerichtet sind. Kein Auge hat sie zugetan diese vergangene Nacht. Auch nicht, als der Pfleger ihr ein Bett gebracht hat. Schon gar nicht, als er ihr gesagt hat: „Ihr Vater ist am falschen Ort.“

Zehn Minuten bleibe ich bei Amir. Dann schickt er mich raus. „Ich bin so müde“, sagt er.

Als ich gehe, streckt er mir die Hand entgegen. So warm fühlt sie sich an. So weich. Er weiß es, denke ich. „Bitte mach die Tür ganz weit auf“, sagt Amir, während ich hinausgehe . Als ob er dadurch besser atmen könnte.

„Herr Kolar“, wird der Arzt am nächsten Morgen zu Amir sagen, „Sie wechseln das Hotel.“ „Kommen Sie mich besuchen“, wird Amir ihm antworten.

Zwei Stunden später liegt er an einem neuen Ort. Wieder ganz oben. Wieder direkt am Fenster. Diesmal sind draußen Weinberge zu sehen und bunte Bäume. Drinnen hängt ein schlichtes Kreuz an der Wand. Es ist die Palliativstation des Krankenhauses Göttlicher Heiland. Amir liegt auch hier in einem Einzelzimmer. Ganz ohne Zusatzversicherung.

„Ich bin froh, hier zu sein“, sagt Amir, als ich ihn dort zum ersten Mal besuche. Stille statt Alarm neben dem Bett. Als ich ihn Tage später zum letzten Mal besuche, ist Leona mit dabei. Es ist 22 Uhr. Wir öffnen eine kleine Sektflasche, schenken uns ein, Amir bekommt auch ein Glas. „Na?“, fragt uns Amir. „Ihr zwei Nachtschwärmer. Wo geht eure Reise heute noch hin?“ Wir lachen. Und prosten einander zu. „Živio!“ Leb hoch!

Kommentar der Autorin Gerlinde Petrić-Wallner

„Der Hotelwechsel“ ist der zweite Teil einer Textserie über Amir, der eigentlich nicht Amir heißt. Er ist der Vater einer Freundin von mir, hat früher beim Geheimdienst gearbeitet. Und mir am Sterbebett eines gesagt: „Nimm deine Arbeit nicht zu ernst.“ Ihn in seinen letzten Wochen zu begleiten, war intensiv und dicht. Der Text will diese Augenblicke sichtbar machen. Und erzählt von ganz gewöhnlichen Alltagsgesten, die plötzlich ganz ungewohnt sind.

Würdigung von Manfred Tacha:

Wo geht die Reise hin? Genaue Beobachtung, sprechende Details und immer wieder kleine Überraschungen: Gerlinde Petrić-Wallners Texte haben etwas Filmisches. Ihre Wörter lassen im Kopf Bilder entstehen. Die Kamera fährt mit, manchmal schnell und unruhig wie die Bahre aus dem Rettungswagen auf dem Weg zur Notoperation, manchmal unbewegt, stehend und still. Immer wieder Perspektivenwechsel, kein Wort ist zu viel. Ihr gelingt etwas, was nicht einfach ist: Schweres wirkt in ihren Texten leicht und hallt dennoch lange nach - hinten im Echoraum der Erinnerung.

Manfred Tacha

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Zwei Worte

von Judith Mederer

Zwei Worte ist das erste Moosbach-Fragment und ein Dank ans Leben.

Ich sause hinter Astrid durch die Kuchl, ich sehe nur mehr ihren Holzpantoffel um die Ecke

verschwinden. Jetzt durch die warme Stubn, vorbei am schwarzen Holzofenungetüm. Am Türstock halte ich mich fest. Ich weiß, das spart Sekunden und ich komme schneller um die Kurve. Weiter ins Vorhaus, über die Holzdielen, krächz, krächz, über die Fliesen, kalt, da und dort ist ein Stück herausgebrochen, Tempo ein bisschen, nur ein ganz kleines bisschen reduzieren, auf den Fliesen ist mit Socken Rutschgefahr. Den Gang entlang vorbei am Waschkessel. Hier kann ich raufschaun, ohne Tempo zu verlieren. Dort, wo auf zwei Stangen das „Lebensmittelreservoir“ ist. Dort oben, wo Kinderhände nicht hinkommen und auch nichts zu suchen haben. Da liegen sie. Auf zwei dunklen Leisten aus Holz. Zwei Laibe Brot. Rund, appetitlich, groß, dunkelbraun, als hätte jemand einen Medizinball in zwei Hälften geschnitten, mit diesen symmetrischen Ringen und dem Geruch von Moosbach. Zu der Zeit dachte ich noch, dass der Laib mit „e“ geschrieben wird, weil in diesem Roggenberg muss doch ein ganzer Leib drinstecken. Wir wussten, das Brot wird später von Tante Greti geholt und von ihr zur Jausn angeschnitten. Ich keuche. Jetzt schnell weiter – vor der Jausn muss ich noch Astrid erwischen. Jetzt sehe ich außer ihrem Holzpantoffel auch ihre blaue Hose entwischen. Die Tür zieht den letzten Zipfel des schwarzen Haarzopfs rein. Gleich erwisch ich sie! Wir sind in der Küche, dort, wo in meiner Erinnerung alle meine Verwandten Platz hatten, weil Platz ist in der kleinsten Hütte, wie Oma immer gesagt hat. Eine Runde ist geschafft. In der zweiten Runde schnapp ich sie! Noch liegt mein „I hob die glei“-Gebrüll in der Luft, da hör ich sie, die Worte, die sich in mein Gedächtnis für immer einprägen werden. Dein Rücken schaut uns wie all die anderen Male aufrecht, regungslos an. Dein Blick bleibt konzentriert auf die Tarockkarten in deiner Hand gerichtet, die Stimme umso einprägsamer, deine Worte laut, raum-, also küchenfüllend, gerichtet an uns, deine Enkelkinder. – Sie sind nur zu zweit und brauchen weder Erklärung noch Antwort: „Tür zua!“

Würdigung von Jenny Legenstein:

Als ich „Zwei Worte“ zum ersten Mal las, war ich ganz atemlos beim Verfolgen dieses Wettlaufs. Judith Mederer beschreibt in wenigen Zeilen kindliches Vergnügen, ein Haus und ein Milieu, und die jähe Beendigung des Spiels durch „zwei Worte“. Ich höre das Pantoffelgeklapper, das Knarren des Bodens, bin in der beschriebenen Szene drin, in die mich Judith mit wenigen Worten hineinzaubert.

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Comics für Franko

von Manfred Tacha

Irgendwann fragt mich mein jüngster Sohn nach meinem Vater, dem unbekannten Opa. Meine Kinder kennen ihn nicht. Er ist 1988 gestorben, also vor ihrer Geburt, und er hatte ein halb-verpatztes, patschertes Leben. Da meint meine Tochter: „Schreib es uns auf. Du kannst das!“ Herausgekommen sind biografische Skizzen, Erzählfragmente und die Annäherung eines Sohnes an den sprachlosen Vater.

Mein Vater hatte keinen guten Freund; einen, der ihn durchs ganze Leben begleitet, einen, auf den er sich verlassen konnte, den hatte er nicht. Bekannte ja. So ein Bekannter ist Franko. Seinen wirklichen Namen kenn ich nicht. Er erscheint plötzlich wie eine dunkle Sternschnuppe, wirft seinen Schatten und verschwindet wieder. Franko kommt zu uns zu Besuch. Franko ist groß, hager. Er hat schwarz-stechende Augen in dunklen Höhlen, dazu schwarzen Vollbart und schwarze Locken – vielleicht ist er Ende dreißig. So stelle ich mir als Kind einen Süditaliener vor; dunkler Mann, dunkler Typ, dunkle Erscheinung, dazu ein symmetrisch-schmal-ovales Gesicht, unter dem Jochbein leicht eingefallene Wangen, unter den Brauen die Augen tief in den Höhlen, der Blick mehr nach innen gerichtet. Er sieht gut aus, beeindruckt und erschreckt mich zugleich. Mir scheint, als hätte er nie gesprochen - was nicht stimmt, aber ich empfinde eine verzweifelte Stille um ihn. Er wirkt wie ein in Unehren entlassener Robin Hood - ohne Kameraden, ohne Schutz. Sherwood Forest ist verloren. An der Küste wäre er ein Pirat, im Gebirge ein Wilderer, im gelobten Land ein Christus ohne Jünger und ohne Maria Magdalena. Für einen kurzen Moment wendet er sich mir intensivst zu: „Kann ich mir deine Comics ausborgen?“ Mir wird heiß. Das ist weniger eine Frage, mehr eine Entscheidung. Ein erwachsener Mann liest Comics. Meine Comics! „Ich bring sie dir bald zurück“, erklärt er. Der Vater schweigt betreten, die Mutter blickt stumm.

Ein paar Wochen später will mein Vater ihn besuchen. „Komm mit.“ Wahrscheinlich ist ihm die Sache nicht geheuer. „Weißt du“, sagt er entschuldigend zu mir, „er wohnt jetzt da unten.“

„Jetzt“, bedeutete, dass er vorher im urbanen Teil von Erdberg gelebt hatte und „da unten“ heißt: am Erdberger Mais in dieser verwilderten Gstätten jenseits der Schlachthausgasse hinter dem Erdberger Kellerberg. Die Gasometer sind nicht weit. Wir nähern uns einer Art Schrebergartenhäuschen, wahrscheinlich aus den Zwanzigerjahren. Schon bei der Errichtung klein und schief gebaut - ohne das geringste Futzelchen Romantik. Fünfzig Jahre später ist es immer noch niedrig, hässlich und feucht. Vorn stützt ein Hollunder-Strauch die mürbe Hauswand. Hinten überragt ein verwilderter Zwetschkenbaum das undichte Dach. Am Gartenweg sitzen Gräser in den Spalten zersprungener Platten. Hier, im Niemandsland zwischen Simmering und Erdberg, wohnt die Armut. Vor dem Krieg teilen sich ein paar Gärtnereien mit Glashäusern, schiefen Schuppen und verwilderten Gärten den Platz an der Peripherie. Nach dem Krieg stranden hier deutschsprachige Vertriebene. Viele dieser Flüchtlinge kommen aus Bruck an der Donau (dem heutigen Most pri Bratislave) in der Slowakei und leben in Holzbaracken in der Barthgasse. Displaced Persons auf dem Weg ins bessere Leben.

Auch mein Franko ist so eine Displaced Person, aber anders. Er liegt am Boden, eingewickelt in eine fleckig-graue Steppdecke. Die Fenster im Nebenraum sind teilweise zerborsten und Scherben und zerrissene Comics liegen herum. Meine sind es nicht. Er rührt sich nicht – er ist nicht tot, ihn umgibt aber eine Aura des Unansprechbaren. Noli me tangere – berühr mich nicht, halt mich nicht fest, hat der auferstandene Jesus zu Maria Magdalena gesagt. Wahrscheinlich ist mein Pirat betrunken, zumindest liegen ein paar leere Ottakringer- und Schwechater-Flaschen herum. Vielleicht, aber die Idee kommt mir erst viel, viel später, vielleicht nimmt er Drogen. Denn wie ein Säufer sieht er nicht aus, dafür wirkt er zu edel. Mein Vater geht in die Knie, spricht ihn an, berührt ihn aber nicht. Keine Reaktion; die Brust hebt und senkt sich ganz sacht. Es ist beklemmend – wir gehen.

Zu Hause angekommen, diskutieren meine Eltern mit verhaltener Schärfe. Vorwurfsvoll der Ton meiner Mutter („Wie kannst du …!?“, „Was hast du dir eigentlich gedacht …?“). Wahrscheinlich macht sie meinem Vater Vorhaltungen, sich mit – Zitat – „solchen Leuten“ abzugeben, überhaupt solche Kontakte zu haben. Unleidlich-verhalten mein Vater. Die Stimme angeschmirgelt, die Falte über der Nase steil. Er verteidigt sich. Ein paar scharfe Satzfetzen.

Wahrscheinlich, aber das ist ein Gemenge aus unscharfer Erinnerung und freisteigender Fantasie, wahrscheinlich war die Geschichte recht schlicht: Der Mann hatte ein normales Leben, einen einfachen Beruf, Wohnung, ganz sicher eine Frau, die ihn anfangs sehr mochte – dann Alkohol, Scheidung, Depression und zuletzt die ganz großen Lose (arbeitslos, obdachlos). Wahrscheinlich Geld geborgt von meinem Vater. Dann - wie eine Figur aus einem Theodor-Kramer-Gedicht - weg aus dem Städtischen hinüber in den Erdberger Mais unter Hollerbusch und Zwetschkenbaum. Er hat dabei die magische Grenze der Schlachthausgasse überschritten – um dann für immer unser Leben zu verlassen. Freunde bleiben, Bekannte verschwinden. Meine Comics habe ich nie zurückbekommen.

Würdigung von Gerlinde Petric-Wallner:

Tacha klingt wie Kafka. Und Tacha schreibt wie Kafka. Wie Kafka über den Vater – diesen unbekannten Bekannten. Den man hassen oder fürchten kann. Hassen für das Nicht-lieben-Können. Fürchten für das Nicht-leben-Können. Josef Tacha, der Vater von Manfred Tacha, hat viel Übung im Nicht-leben-Können. Da sucht er vergeblich einen Freund und findet einen Gefallenen. Einen, der die ganz großen Lose gezogen hat: arbeitslos, obdachlos, wie Manfred Tacha schreibt. Da streitet der Vater mit seiner Frau: Unleidlich-verhalten. Die Stimme angeschmirgelt. Es sind solche Details, die zeigen, wie genau Manfred Tacha beobachtet – und wie genau er seine Worte wählt. Die Worte treffen und berühren. Worte, die eine Tür öffnen. Dahinter ist die Welt des Josef Tacha – fremd zuweilen und unheimlich, abstoßend, dann wieder seltsam nah; manchmal tut er einem leid. So oder so: Ich möchte mehr erfahren über diese Welt.

Depression

von Christina Mondolfo

Ich wate durch Molasse. Dick, dunkel, zähflüssig, klebrig. Ich habe längst meine Schuhe verloren in dieser süßlichen Masse aus Verführung und Verwesung. Meinen Halt auch. Ich wanke. Die Molasse kriecht langsam an meinen Beinen hinauf. Unaufhaltsam umschlingt sie meine Knie, meine Oberschenkel, giert nach meinem Bauch, will mein Herz. Sie windet sich höher, legt sich um meinen Hals, raubt mir Luft und Stimme. Sie verschließt meinen Mund, bedeckt meine Augen und verstopft meine Ohren. Dunkelheit, Stille, Starre. Ich werde zu Molasse, fließe als sinnenentleertes Wesen. Ich habe meine Gedanken verloren, habe mich verloren.
Ich wache auf; nicht schweißgebadet, aber irgendwie klebrig. Durch das Fenster dringt schwacher Lichtschein. Nein, nicht die aufgehende Sonne, es ist noch zu früh. Eine Straßenlaterne. Die Nacht hinter dem gedämpften Licht sieht aus wie Molasse. Dick, dunkel, zähflüssig, klebrig. Sie will zu mir ins Zimmer, in mein Bett, in mich. Ich lasse sie.

Kommentar der Autorin Christina Mondolfo: Eine Depression hat für jede*n Betroffene*n ein anderes Gesicht. Und jede*r beschreibt sie anders. Das ist meine Version.

Mieses Wetter

von Christina Mondolfo

Tristan starrt aus dem Fenster. Unaufhörlich peitscht der Sturm den Regen gegen die Scheibe. Regen, der schon seit zwei Tagen vom Himmel stürzt und die Straße unterhalb des Hauses in einen wilden Strom verwandelt hat. Tristan beobachtet die ungebärdige braune Brühe, die ihre Beutestücke gnadenlos fortreißt. Mächtige Äste; eine Plastiktonne; ein Gartensessel. Und da – auf dem Brett, das auf den Wellen hüpft und schlingert, ist das nicht die Nachbarskatze? Diese rotgetigerte Pest, die immer einen Buckel macht und ihn anfaucht, wenn er ihr zufällig begegnet? Tristan presst seine Nase an die Fensterscheibe, um besser sehen zu können, doch die Wassermassen haben die Katze schon fortgetragen, einem ungewissen Schicksal entgegen.

Trotz des heulenden Sturms und des prasselnden Regens hört er die leisen Schritte im Flur, die sich langsam nähern. Er betrachtet weiter den Garten. Einladend sieht die Wiese nicht aus. Hinter ihm sagt Konstantin: „Na los, komm schon, mein Freund, nur ein paar Minuten, ja?“ Tristan seufzt, wirft Konstantin einen Blick über die Schulter zu und denkt: „Nicht jetzt. Ich bin beschäftigt. Wenn ich pinkeln muss, melde ich mich.“ Konstantin neigt seinen Kopf leicht zur Seite und betrachtet Tristan. Nach einem tiefen Blick in seine Augen zuckt er mit den Schultern, murmelt leise „na dann eben nicht“, dreht sich um und geht aus dem Zimmer. Die Tür lässt er offen.

Tristan sieht wieder aus dem Fenster, beobachtet den Regen und die Wassermassen, die dem Gartenzaun mittlerweile ein Stück nähergekommen sind. „Was für ein Hundeleben!“, denkt er und genießt das Gefühl, wieder einmal stärker als sein Herrchen gewesen zu sein.

Kommentar der Autorin Christina Mondolfo: Im September 2024 waren die Nachrichten mit Meldungen und Bildern über die Hochwasserkatastrophe vor allem in Niederösterreich überschwemmt. Trotz aller Tragik hat es mich gebissen, eine andere, literarische Perspektive zu wählen.

Würdigung von Astrid Radner: Christina findet Worte für das Unbeschreibliche: die Dunkelheit und die Leere, das Absurde und das Fantastische, das Verletzliche und das Schöne in alledem.

Einzigartig ist für mich die sprachliche Macht ihrer Texte. Christina wählt ihre Worte weise. Keines ist zu viel. Keines zu wenig. Und zwischen diesen Worten entfaltet sich eine bunte und auch manchmal gruselige Welt.

Ganz wundervoll finde ich, wie Christina mit Lesererwartungen spielt. Ihre Protagonist*innen entpuppen sich oft als ganz andere, als man zu Beginn denkt.

Mein Tipp: Die Texte „Depression“ und „Mieses Wetter“ laut vorlesen. Der Klang der Sätze, der Scharfsinn und der darunter liegende Humor, das alles entfaltet sich dann besonders eindrucksvoll.

Wie der Hase sein Auge und Sarah ein Kind verlor

von Bettina Kreuter

Das Gitterbett ist bis auf einen Schnuller und einen Plüschhasen leer.

Ein zarter Hauch von ungewaschenem Körper hängt im Raum. Sarah, Ende 30, strähniges Haar, verquollene Augen, hat seit drei Tagen weder geduscht noch Zähne geputzt. Genauso lang ist sie keine Pflegemutter mehr.

Behutsam nimmt sie das Stofftier, hält es an ihr Gesicht, benetzt es mit ihren Tränen. Einäugig und stoisch lässt es der abgewetzte Hase über sich ergehen. Sein zweites Auge verlor er irgendwann in der Waschmaschine. Oft musste er in die Trommel – beschmutzt von Erde, Spucke und Babybrei.

Jetzt liegt er hier, verlassen ohne seine Bezugsperson – ohne Leon. Das ist allein Sarahs Schuld. Sie hat in ihrem eigenen Kummer, im Trubel der vergangenen Tage vergessen, Leon seinen geliebten Hasen mitzugeben.

Sie könnte sich ohrfeigen dafür.

Keinen Tag waren sie getrennt, vor zwei Jahren zogen die beiden gemeinsam ein. Sie kuschelten beim Einschlafen, beim Essen lag der Hase auf dem Tisch und am Spielplatz durfte er auch nicht fehlen. „Hasi“, so sein Name, schlicht und einfach „Hasi“, war immer dabei.

Und jetzt sind sie getrennt. Das Stofftier bei ihr, Leon bei seiner Mutter.

Ob sie ihm den Hasen bringen kann?

Die Sozialarbeiterin meinte, man werde sich bemühen, für sie als Pflegemutter Besuchskontakt zu vereinbaren. Nach so langer Zeit des Zusammenseins sollte dies möglich sein. Doch wollte sie das?

Ein halbes Jahr nach seiner Geburt wurde der Bub seiner leiblichen Mutter abgenommen. Ohne Gerichtsbeschluss, aber mit deren Zustimmung. Sarah hatte damals ein ungutes Gefühl, doch ihr Herz rief lauter als ihr Verstand. Endlich ein Kind für sie und ihren Mann Harald. Nach zahlreichen künstlichen Befruchtungen, verzweifeltem Warten auf den Schwangerschaftstest und einer Fehlgeburt stand die Entscheidung fest: einem fremden Kind ein Zuhause geben.

Die Angst vor Rückführung begleitete sie seit dem ersten Gespräch mit dem Jugendamt. Doch dort wurde beruhigt: Das passiere kaum. Die Eltern würden ihre Kinder entweder nicht zurückholen wollen oder sie würden es niemals schaffen, alle Auflagen zu erfüllen, die es dafür braucht.

Die Angst schlummerte in Sarah weiter.

Die Liebe zu Leon wuchs von Tag zu Tag, ja von Minute zu Minute.

Sein Vater war unbekannt, seine Mutter konnte ihn nicht versorgen: Sie war drogenabhängig und hatte keinen festen Wohnsitz. Niemand glaubte, dass sich das ändern würde.

Und dennoch passierte es.

Nach einem Entzug, einer Therapie und viel Unterstützung seitens der Behörden forderte sie ihren Sohn zurück. Gemeinsam mit ihren Eltern zog die leibliche Mutter ihre Einstimmung zur Fremdunterbringung zurück. Sarah und Harald versuchten vieles, um eine Rückführung zu verhindern: Da Pflegeeltern in den meisten Fällen keine Parteienstellung haben, nahm sich das Ehepaar einen Anwalt und trat als Privatkläger auf.

Nach monatelangem Hoffen, zahlreichen Gesprächen und einigen Gerichtsterminen ging letztendlich alles sehr schnell.

Frühmorgens, als Leon noch schlief, nahm Sarah ihn aus seinem Bettchen, Harald trug den kleinen Koffer und sie machten sich auf den Weg zum Jugendamt. Der Bub wachte nicht auf, sie küsste ihn auf die Stirn, drückte ihn der Sozialarbeiterin in die Arme und drehte sich um. Sie hörte ein leises Quengeln, hielt sich die Ohren zu und rannte davon.

Harald erledigte die Formalitäten und Höflichkeitsfloskeln mit Pokerface und seinem unsichtbaren Schutzanzug, den er anlegt, wenn es schwer wird. Er funktioniert immer. Nur keine Schwäche zur Schau tragen. Das ist für Sarah verstörend und bestärkend zugleich. Dank seiner Unterstützung darf sie sich in ihren Kokon aus Traurigkeit zurückziehen.

Seit diesem Abschied hat Sarah ihren Mann und Leons ehemaligen Pflegevater nicht mehr gesehen: Er vergräbt sich in seiner Arbeit in der Firma, sie im Bett.

Kommentar der Autorin Bettina Kreuter: Der Text ist ein Auszug aus meinem Buchprojekt „Nabelschnur zum Herz“. Ein Ratgeber für Pflegeeltern zum Anlehnen, Auftanken und Durchatmen. Gedacht als Seelentröster und Energietankstelle.

In diesem Buch erzähle ich von unserer ganz persönlichen Reise. Hinzu kommen Einblicke direkt in das Zuhause anderer Pflegefamilien (zum Beispiel die Geschichte des Hasen). Hinterlegt werden sie mit vielen Informationen und Fakten von unterschiedlichen Experten wie Sozialarbeitern, Therapeuten, Ärzten rund um das jeweilige Thema.

Würdigung von Daniela Mathis: Ein kurzer Text so voll an Emotionen, dass man ihn gern und ungern zugleich liest. Ein Kind, eine Mutter, ein Vater, getrennt. Mitten ins absolute Mitgefühl drängen sich dann plötzlich viele Fragen: Wie konnte es so weit kommen? Wo ist Hilfe? Warum fährt er ins Büro? Vermisst sie das Kind so sehr, oder das Muttersein? Was macht einen Menschen als Elternteil eigentlich aus, wenn das Kind nicht da ist? Und man liest den Text gleich noch einmal.

Durch das Glas

von Astrid Radner

Weil die Godi den Glaskasten nicht mit ins Grab nehmen konnte, ließ sie ihn im Wohnzimmer. Direkt neben der Glastür, die ins enge Vorhaus führte und deren Klinke abgegriffen war, abgeschliffen von abertausend fettigen Türöffnungen und Türschließungen, stand er zwischen den abgewohnten Wänden, die ein ganzes Leben gesehen hatten und auf ewig alles Heimliche kennen.

„Du, wenn ich mal nicht mehr bin“, habe die Godi schon Monate zuvor im Gasthaus gesagt. Und die Mama habe aufgelacht, was sie denn da rede, sie werde doch hundert.

„Du, aber der Glaskasten, der bleibt schon in der Familie, stimmt‘s?“, habe die Godi gefragt, als ihr die Mama neue Nachthemden ins Altersheim brachte. Und die Mama, genervt und verzweifelt zugleich, was sie denn mit dem Glaskasten habe.

Und als die Godi nur mehr flach atmete und ihr Herz nur mehr ein paar Schläge übrig hatte, war es keine Frage mehr, „der Glaskasten“, sagte die Godi, und die Mama nickte. Der Vertrag war geschlossen und die Godi konnte dort hingehen, wo man hingeht, wenn das Herz keine Aufträge mehr hat.

Die Godi, das war die Patentante der Mama, aber alle, sogar ihre Schwester, die auch meine Oma ist, nannten sie einfach Godi. Die Godi hat nie Kinder gehabt, obwohl sie gern Kinder gehabt hätte, sagt die Mama. Geheiratet hat sie auch nie, obwohl sie bestimmt heiraten hätte können, sagt die Oma, weil die Godi als eine Junge mit ihrer aufgeweckten Art und den roten Locken, das war schon was. Aber die Godi, sagt die Mama, wollte nur einen und den hat sie nicht bekommen und dann ist man selbst schuld. Und so [P2] ist die Godi eben übriggeblieben. Sagen tut das niemand, aber denken schon.

Kommentar der Autorin Astrid Radner (https://www.torial.com/astrid.radner): Der Text ist ein Auszug aus meiner Kurzgeschichte „Durch das Glas“, die beim Kurzgeschichten-Wettbewerb fm4 Wortlaut unter die Top Zehn gekommen ist. Der ganze Text ist auch im Wortlaut-Buch zu lesen: https://shop.orf.at/fm4/de/buch/3167/fm4-wortlaut-2024-versprechen.

„Durch das Glas“ war für mich ein experimentelles Schreibspiel über die Grenzen des Journalismus hinaus. Inhaltlich fußt der Text auf einem realen Versprechen, dem Versprechen meiner Mutter am Sterbebett meiner Großtante, der „Godi“. Dieses Ereignis habe ich mit einer fiktiven Geschichte einer jungen Frau kombiniert. Besonders interessiert hat mich dabei der vermeintliche Schreckens-Typus der alleinstehenden, alten Frau. Und die Frage: Was bleibt von einem, wenn man geht?

Würdigung von Christina Mondolfo: Mit ihrem feinen Gespür für das, was hinter den Dingen steht, für Bedeutsamkeiten und Befindlichkeiten, macht Astrid aus einem Glaskasten ein Herzensstück - in allen Bedeutungen des Wortes. Wer Wänden zutraut, alles auf ewig Heimliche zu kennen, oder die Godi dorthin gehen lässt, wo man hingeht, wenn das Herz keine Aufträge mehr hat, der schreibt mit dem Herzen - und was kann es Schöneres, Aufregenderes, Bewegenderes geben, wenn man beim Lesen Herzklopfen kriegt? Und wer zwischen den Zeilen liest, wird noch viel mehr entdecken in Astrids Welt, die sie mit Stil und Liebe und Herz zu neuem Leben erweckt.

Sturzflug

von Jenny Legenstein

Ein graues Flugzeug dreht in scharfer Wendung ab. Kein Verkehrsflugzeug, kein Abfangjäger, kein Segelflieger, keine Cessna oder sonst so eine Sportmaschine. Seltsam.

Flugzeuge am Himmel. Gestern erst, in einer dystopischen TV-Serie, stürzten Passagiermaschinen auf die Erde.

Ein wiederkehrender Alptraum, den ich hatte: ein Flugzeug im Sturzflug. Du auf der Erde siehst, wie es immer größer wird. Du rennst.

Im wirklichen Leben fürchtete ich lange Zeit Luftfahrzeuge, die nur zu hören waren, unsichtbar hinter Wolken. Ich war sicher, dass diese Maschinen abstürzen würden.

Sich auflösende Kondensstreifen und ein Passagierflugzeug am blauem Herbsthimmel. Nichts stürzt ab. Der Absturz ist immer unsere Angst. Dass etwas auf uns stürzt, dass wir in unserem Leben abstürzen, dass wir an der Bar abstürzen

am Berg

am Rand eines Perrons

dass die Börse abstürzt

die Wirtschaft

Wir fürchten nicht, dass Vögel abstürzen, auch wenn sie das manchmal tun. Wir fürchten nicht, dass Forstarbeiter abstürzen, auch wenn sie das manchmal tun. Oder dass sie von umstürzenden Bäumen erschlagen werden. Viele fürchten einen Bitcoin-Absturz, den Absturz des Goldpreises, den der Aktienkurse. Auch wenn sie weder Bitcoin-Anteile noch Gold noch Aktien besitzen.

Im Alter fürchten wir bei jedem Schritt den Sturz. Wo doch Gehen von jeher ununterbrochenes aufgehaltenes Stürzen ist. Vorsicht Sturzgefahr!

Fürchtet jemand den Bergsturz, bevor die Felsstücke auf der Straße, auf dem Trümmerhaufen, der ein Haus war, liegen?

Der Sturzbach, dort, wo sonst ein Rinnsal gerade noch fließt. Denkst du an den Sturzbach bei Sonnenschein?

Alles stürzt auf dich ein, keine Zeit, dich zu fürchten, oder du fürchtest dich die ganze Zeit. Wovor fürchtest du dich? Früher hieß es Reizüberflutung, nun Normalität. Minimale Aufmerksamkeitsspanne, keine Konzentration. Das ist gut so. Denn so stürzen die Eindrücke nicht bis ins Herz. Oder nur manchmal, oder doch immer.

Wir stürzen aber auch den Gugelhupf und nicht die Regierung.

Dennoch:

einstürzen

überstürzen

sturzbetrunken

Wir stürzen uns in eine Beziehung, in die Arbeit, ins Abenteuer. Hals über Kopf.

Wir schätzen es nicht, wenn der Besuch unangemeldet bei der Tür hereinstürzt.

Wir sind bestürzt.

Kommentar der Autorin Jenny Legenstein: Dieser Text entstand während einer Zugfahrt, als ich durchs Fenster ein Flugzeug beobachtete. Es stürzte natürlich nicht ab. Aber auf mich stürzten Gedanken ein …

Würdigung von Judith Mederer: Ein Blick aus dem Zugfenster setzt etwas in Gang: Unverwechselbar formt Jenny Geschichten, sie spielt mit Worten, zerlegt und beleuchtet sie, um ihnen neuen Sinn zu geben. Klar und kompromisslos, humorvoll und mit unerwarteten Wendungen. Jenny lässt uns teilhaben an ihren Gedankenexperimenten. Sie provoziert und hinterlässt ein Nach- und Weiterdenken über eigene Werte, Ängste und Philosophien. Mein Lieblingssatz in Jennys Text: „Denn so stürzen die Eindrücke nicht bis ins Herz“.

Kommentar von Marie Lampert zur Schönschreibgruppe: In 30 Jahren als Dozentin/ Trainerin für journalistisches und überhaupt professionelles Schreiben habe ich keine vergleichbare Gruppe erlebt. Die Schönschreiber*innen haben nach dem fjum-Kurs „Literarisches Schreiben“ einfach weitergemacht – präsent und online. Sie schreiben beherzt und bedacht, intuitiv und reflektiert. Sie sind verbindlich, zugewandt, und feinfühlig im Feedback. So schön.

Wir treffen uns alle 6-8 Wochen, teilen Texte, Erfahrungen, Eindrücke. Und die Lust und Freude an Sprache.